31 December 2021

Weihnachtspredigt 2021: Gottes Weg der Geburt

 

1. Wenn Geburt doch so einfach wäre

Liebe Gemeinde,

Am vergangenen Wochenende war ich in Bischofszell zu den "Bischofszeller Weihnachtsspielen". In der ganzen Altstadt verteilt wurde von Station zu Station die Weihnachtsgeschichte vorgespielt, vom Besuch des Engels bei Maria über die Reise nach Bethlehem, die Abweisung beim Wirtshaus und die Geburt im Stall, bis zur Ankunft der Hirten beim neugeborenen Kind. Es war ein sehr besonderes Erlebnis und sehr schön gemacht.


Etwas, das mir besonders zum nachdenken gegeben hat, war die Geburt. Maria und Josef kamen beim Stall an, und der Erzähler sagte, dass die Zeit der Geburt gekommen war. Maria und Josef gingen hinein. Kurz darauf kamen sie wieder heraus, Maria mit dem Kind auf dem Arm.


"Das war wohl eine Sturzgeburt," hat jemand neben mir bemerkt, und ein paar haben gekichert.


Ja, wenn das doch nur so einfach wäre! Schwuppsdiwupps, da ist das Kind. Keine Mühe, keine Schmerzen, es ist einfach da. Erholung braucht die Mama danach auch keine, sie sieht frisch aus und zufrieden. Das Kind ist herzig und lieb und liegt still und brav da, hält schön hin für den ganzen Besuch.


Ja, so stellen wir das doch dar, alle Jahre wieder, in Bildern, in Krippenszenen, auch in unseren Liedern. "Stille Nacht, heilige Nacht" – alles schön ruhig und friedlich, Maria und Josef, die glücklichen Eltern, beide frisch und gut ausgeruht, "in reinlichen Windeln das himmlische Kind, viel schöner und holder als Engelein sind." Sogar Futterkrippe und Stall sind sauber und ordentlich. Alles ist schön, alles ist sauber, alles ist friedlich.


Aber sind wir mal ehrlich: so sieht es bei einer Geburt nicht aus.


2. Wie es (wahrscheinlich) eigentlich war...

Stille Nacht? Für Josef und Maria ist es nicht besonders still. Und das Lied trägt dem auch Rechnung, denn es heisst: "Einsam wacht / nur das traute hochheilige Paar." Einsam wacht. Für sie ist das eine strenge Nacht.


Zuerst der ganze Stress, einen Platz zu finden, wo Maria gebären kann, in diesem Ort so weit weg von daheim. Reisen in der Spätschwangerschaft ist sicher nicht so angenehm, mit dem immer unpraktischer werdenen Körper. Beschwerden – vielleicht hat sie Sodbrennen, vielleicht bekommt sie Wassereinlagerungen, sie wird schneller müde, vielleicht kann sie in der Nacht schlecht schlafen, weil der Bauch ihr im Weg ist oder das Kind zu fest tritt. Vielleicht ist Maria ungeduldig, endlich ihr Kind kennenzulernen – und freut sich, wenn es jetzt endlich, endlich losgeht. Aber vielleicht hat sie auch Angst, was da auf sie zukommt. Geburt ist ja nicht ungefährlich, weder für die Mutter noch für das Kind, damals noch mehr als heute.


Steht ihr ausser Josef noch jemand zur Seite, um sie zu unterstützen? Wie geht sie um mit den Schmerzen, in dieser Zeit, in der Schmerzmittel noch gar keine Option sind? Nicht alle Frauen tönen während der Geburt – ist Maria eine, die stumm bleibt, oder muss sie lauthals schreien? Geht die Geburt lang, oder ist das Kind schnell da? Bekommt sie Risse oder andere Geburtsverletzungen?


Und dann ist es endlich da, das Kind – der "holde Knabe im lockigen Haar". vielleicht sieht er etwas zerquetscht aus; viele Neugeborene sind am Anfang etwas gräulich-blau, runzlig, nass. Weiss nicht, ob irgend jemand ausser Maria in dem Moment ihn "schöner und holder als Engelein" gefunden hat. Und die reinlichen Windeln sind sicher nicht so lange reinlich geblieben, hoffentlich nicht – ich weiss noch, wie wir auf das erste Bisi bangen mussten weil es sich etwas verspätet hat und das nicht gesund gewesen wäre.


Einsam wacht: die strenge Nacht geht weiter. Vielleicht kann Josef erschöpft einschlafen. Ob Maria schlafen kann? Sie braucht die Erholung, aber vielleicht sind die Glückshormone zu stark und halten sie wach, vielleicht muss sie aufbleiben und dieses wunderbare Wesen anschauen, berühren, bewundern. Vielleicht hält das Kind sie wach mit Stillen. Vielleicht kann sie nicht einschlafen, weil jetzt die Sorgen anfangen: Geht es meinem Kind gut? Ist alles in Ordnung? Atmet es noch? Vielleicht muss sie immer wieder einen Finger über die Nase des Kindes halten um sicherzustellen, dass er noch atmet.


Einsam wacht: nicht mehr ganz einsam, sobald die Hirten eintrudeln. Dann haben sie Gesellschaft. Wollen sie die überhaupt? Sind sie überhaupt bereit dafür? Maria hat eine riesengrosse innere Wunde und kann vielleicht kaum aufstehen und laufen. Sie hat gerade eine ganze Nacht schwerste körperliche Arbeit geleistet. Duschen im Stall kann man vergessen. Sie ist verschwitzt und verklebt und es tut noch alles weh. Und da stehen plötzlich lauter Fremde – und auch nicht gerade die willkommensten Fremden. Hirten gehörten damals zum Rand der Gesellschaft, wahrscheinlich waren diese Menschen zerlumpt und dreckig und gaben keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck. "Redliche Hirten", was für ein Widerspruch, hätte man damals gesagt. Das sind nur unredliche Leute.


Und so haben wir unsere Krippenszene: blutig, schwitzig, dreckig, es müffelt nach Tier und nach Körperflüssigkeiten, da ist Erschöpfung und Schmerz, auch ein bisschen Sorge und Angst.


Aber da ist auch Freude. So viel grosse, unaussprechlich grosse Freude. Eine Freude wie nach jeder Geburt, wenn das Kind da ist und es Mutter und Kind gutgeht. Und noch etwas mehr: die Freude an diesem ganz besonderen Kind. Emmanuel – Gott mit uns. Gott ist Mensch geworden. Mitten in all dem Blut und Schweiss und Dreck ist Gott. Nicht im Sterilen, Reinen, Perfekten sondern in diesem total irdischen, total körperlichen, total menschlichen, ja fast tierischem Geschehen.


3. Das geht doch nicht

Liebe Gemeinde,

Wird es uns unangenehm, wenn wir uns die Geburt Jesu so vorstellen? Stört es uns, wenn sie anders dargestellt wird als wie gewohnt schön, sauber, rein und friedlich? Vor einigen Jahren machte ein Bild auf den sozialen Medien die Runden, wo Maria schreiend das Jesuskind herauspresst. Es gab viele negativen Reaktionen. Das geht doch nicht! Das ist doch unwürdig, das ist respektlos!


In einem Artikel über Tabus rund um die Geburt habe ich gelesen: "Wenn die Frau schreit vor Schmerzen, den Stuhlgang nicht kontrollieren kann, Blut fliesst, dann empfinden manche Männer das als erschreckend, eklig und entwürdigend für ihre Frau." Da ist es klar, dass es für unsere fromme Sensibilitäten schwierig sein kann, die "reine Jungfrau Maria" so zu sehen. So eine Darstellung kann einem fast blasphemisch vorkommen.


Oder neuerdings habe ich eine Zeichnung gesehen von einem Baby, dem gerade der Po gewischt wird – der Titel: "Allmächtiger Gott". Da kommt einem doch eine instinktive tiefe Ablehnung hoch. Das geht doch nicht. Das kann man doch so nicht denken.


Das Heilige hat doch mit dem Irdischen, mit dem Menschlichen, mit dem Körperlichen nichts zu tun. Und auch wenn wir glauben, dass Gott Mensch geworden ist, fällt es uns extrem schwer, das in seiner ganzen Konsequenz durchzudenken und zu akzeptieren. Gott ist ein Kind in Windeln geworden, und wir wissen was Kinder in Windeln machen, und da ist nichts besonders reinliches dran. Das passt uns aber so gar nicht in den Kopf. Es fühlt sich so falsch an.


Und das, liebe Gemeinde, ist für mich das Wunder von Weihnachten.


4. Das Wunder von Weihnachten: Gott wird ganz Mensch

Das Wunder von Weihnachten ist, dass Gott ein schreiendes, kötzelndes Kind wird. Das Wunder von Weihnachten ist, dass Gott, statt einfach vom Himmel herabzusteigen, wie er es sehr wohl gekonnt hätte, den Weg der Geburt ausgesucht hat, mit allem was dazu gehört. Das Wunder von Weihnachten ist, dass das Heilige nicht abgehoben, unnahbar und überperfekt ist, sondern dass es sich ganz in das Allermenschlichste eintaucht.


Es ist so in uns eingeprägt worden: Geist gut, Körper schlecht. Das Heilige, wohlwollend aber auf Abstand. Gott sagt an Weihnachten, dass das nicht so ist. Er wird Mensch und heiligt damit unsere menschlichsten Erfahrungen. Gerade das Körperliche, auch das Unattraktive, sogar das Dreckige wird Raum für das Heilige, Begegnugnsraum mit Gott.


Das will uns Mut machen. Mut machen, dass Gott uns nahe kommen will. Dass Gott in all unseren Erfahrungen da ist, unser ganzes Menschsein mit all seinen Facetten mit uns teilt. Die Krippe ist kein unmöglicher, ferner, idyllischer und perfekter Ort, sondern der Ort, wo Gott unsere Unvollkommenheit heiligt. Gerade unsere Unvollkommenheit hat er erwählt. An Weihnachten träumen wir nicht von unmöglicher Idylle, sondern Gott erinnert uns: der Friede auf Erden kommt in dem ganz normalen, Gott kommt zu uns, wie wir gerade sind. Er hat keine Berührungsängste. Auch wir dürfen uns in dieser Geschichte finden, an der Krippe, so wie wir sind. Und an dieser Krippe können wir Kraft schöpfen, Hoffnung schöpfen, nicht weil da eine heile Welt ist, sondern weil Gott sein Heil in unsere Welt hineinbringt, mitten hineinbringt. In unsere Krankheit, in unsere Trauer und unseren Verlust, in unsere Sorgen und Ängste, in die Banalitäten des Alltages, in unsere kleinen und grossen Freuden, in unsere ganz menschlichen Erfahrungen – da wird Gottes Heil geboren, da können wir es jeden Tag erleben, weil Gott an einem Tag vor langer Zeit geboren wurde, so wie jedes Kind geboren wird.


Amen

13 September 2021

Hiobs Frau: Fluche Gott, und stirb!

Und seine Frau sprach zu ihm: Hältst du noch fest an deiner Frömmigkeit? Fluche Gott und stirb! (Hiob 2,9)


Fluche Gott
und stirb!
Was ist der Sinn
weiterzugehen?
Er hat alles genommen.
Was ist der Sinn
an ihm festzuhalten
wenn das der Lohn ist
für all deinen Glauben,
für all deine Treue.
Wenn sogar Gottlosigkeit mehr bringt,
warum noch glauben?
Warum noch leben
wenn er uns schon verflucht hat,
das Leben zur Hölle gemacht,
nicht mehr lebenswert?

Gott.
Ich verstehe nicht.
Ist das was du Liebe nennst?
Ist das wie du uns verdankst
für Glauben und Treue?
Ist das was wir verdient haben?

Was soll ich tun
mit diesem Loch in meiner Seele?
Ich klage an
gegen den Himmel,
rüttle an deinen Thron,
denn ich kann nicht mehr,
kann nicht verstehen,
kann nicht glauben,
ich mag nicht.

Wer hört meine Geschichte?
Wer heilt meine Wunden?
Wer lässt mich weinen, und tröstet mich?
Wer lässt mich fluchen und klagen
so viel wie ich muss
bis das Gift raus ist?
Wer
wenn nicht du?

Oh Gott,
der Gott der mich verwundet,
der Gott der mich heilt –
ich verstehe dich nicht,
kann dich manchmal nicht einmal leiden,
und doch
bist du mein Gott
den ich suche
sogar wenn ich dich hasse.

Ich kann nicht vergeben
was du getan hast –
hilf mir, zu vergeben.
Ich kann dich nicht lieben
weil du das zugelassen hast –
hilf mir, zu lieben.
Ich kann nicht vertrauen
der Hand, die mich fallen liess –
hilf mir, zu vertrauen.

Ich kann nicht glauben
an einen "Gott der Liebe"
der dieses Leid zulässt –
hilf mir,
Gott der Liebe,

an dich zu glauben.

Wenn ich es nicht alleine kann,
wenn ich ertrinke in der Finsternis
meiner Trauer und Wut,
rette mich vor mir selbst
und mach mich wieder dein.

______________________________________

[Übersetzung: 13. September 2021, Original: Job's Wife]

Wir haben im Konfirmandenunterricht heute Abend das Thema "Warum müssen Menschen leiden?" und ich dachte, eventuell baue ich dieses Gedicht irgendwo ein, und so habe ich es jetzt schnell übersetzt. Keine Ahnung ob ich es jetzt in der Stunde verwende oder nicht, aber jetzt ist es zumindest mal übersetzt. XD

Was mir wichtig ist aus dem Hiobsbuch: Es gibt keine Antwort zur Frage, warum Menschen leiden müssen - Gott gibt uns keine Antwort. Aber wir dürfen klagen. So habe ich auch dieses Gedicht geschrieben: wir dürfen klagen, dürfen Gott anklagen, dürfen fluchen, dürfen auf Gott wütend sein, vielleicht hassen wir Gott auch zeitweise wenn wir mitten im Leid sind. Gott hält das aus. Oft haben wir gelernt, solche Gefühle nicht auszudrücken, nicht nur nicht gegenüber Gott sondern auch gegenüber Mitmenschen. Lieber still in sich hineinfressen. Was nicht wirklich so gesund ist. Gerade die Geschichte von Hiob zeigt uns aber, dass wir klagen dürfen. Von Hiobs Frau lesen wir wirklich nur diesen Satz, Hiob selbst lässt aber so einiges raus, was wir uns vielleicht nicht getrauen würden, Gott zu sagen. Aber Gott hält es aus! Gott kommt damit klar, und er ist es auch, der uns trösten kann und mit der Zeit auch wieder zu sich führen kann. Aber wenn wir im Moment auf Gott wütend sind dann glaube ich dürfen wir das. Gott hält das aus.

Vom Buch Briefe die ich niemals schrieb von Ruth van Reken habe ich den Gedanken aufgenommen, dass wir manchmal "Gott vergeben müssen". Wenn man so aufgewachsen ist wie ich, dass Gott doch nie Fehler macht usw., dann kann das ein fremder Gedanke sein. Aber auch wenn Gott keine Fehler macht: vielleicht habe ich  mal Mühe mit etwas, das Gott zugelassen hat. Da kann es mir guttun, wenn ich Gott sagen kann: Ich fand das nicht richtig. Und da kann es entlasten, wenn ich Gott vergeben kann. Mehr als wenn ich das Ganze in mich hineinfresse in der Meinung "Gott macht ja keine Fehler usw". Das schadet der Beziehung zu Gott finde ich mehr als wenn ich das wie einen Fehler behandle. Gott kommt damit klar. Ich denke Gott hält in der Beziehung mit uns so viel mehr aus als wir oft meinen. Bei Hiob hat er ganz viel Klage und Anklage ausgehalten und Hiob am Ende recht gegeben.

Wir verstehen zwar nicht, warum Menschen leiden müssen, und Gott gibt uns keine Antwort. Aber wir dürfen klagen. Wir dürfen anklagen. Wir dürfen wütend und traurig sein. Und Gott ist in dem allem bei uns. Für mich ist Gottes Antwort auf das Leiden das Kreuz: Gott der mitleidet. Gott der mitten in das Leiden hineinkommt, es selber am eigenen Leib erlebt, und unsere Klage zur seinen macht, "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Für mich ist das die "christliche Antwort auf das Leid", und das ist wohl keine Erklärung aber mir gibt es Kraft, wenn ich leide.

Bild von Albrecht Dürer.

29 August 2021

Solomon's Judgement: Rent Hearts


 I.
You were all I had.
My bright light
in this dark life,
something to live for,
a small thread of meaning
in the drudgery.
You were all I had.

But now
the light is snuffed out,
the thread is cut.
My arms are empty.

My arms are empty,
longing,
desperate to be filled.
So I will fill them -
I must, I must.
I will pretend
that he is you
back in my arms again.

You were all I had.
I can't give you up.
I will pretend
that he is you.
And if I can't - then so be it.
Let them rend him with a sword,
my heart is rent already.
I'm too broken to care,
too deep in grief
to grant her what I can't have.
If I must suffer,
she should too.
If I can't have you
no one should.

Let them rend him with a sword.
My heart is rent already.


II.
You are all I have.
My bright light
in this dark life,
something to live for,
a small thread of meaning
in the drudgery.
You are all I have.

But now
the threat of losing you -
snatched, stolen, ripped from my side,
my arms are empty.

My arms are empty,
fighting,
fighting to get you back.
I love you,
I need you,
I need you to be safe.
Come back to me,
back to my arms again.

You are all I have.
I can't give you up.
I need you
back in my arms -
but if I can't, then please be safe.
My heart is rent without you,
but I need you to be whole,
need you to live
and shine your light,
if not for me,
then for yourself.
If the only way 
to keep you safe
is letting you go -
then so be it.

My heart is rent without you,
but I need you to be whole.

_________________________________

[29. August 2021]

Actually had other ladies higher up on my to do list but spontaneously decided to write the p.o.v. of the two prostitutes who fought over a baby. One had accidentally smothered hers in her sleep and now both were claiming the living one. Solomon suggested cutting the baby in half to find out who the real mother was, because she would be more concerned with keeping her child alive.

Anyway because this poetry project is about compassion with the characters / trying to imagine what they are feeling, I did not want to do a "bad mother / good mother" thing. Was the mother of the dead baby selfish for not caring if the live one was killed? Maybe, or maybe she was just too full of grief (which can make us not think straight). One mother's primary concern is her grief, which makes her care about little else. The other's main concern is her child's safety, which makes her willing to sacrifice. Both women are in a terrible situation though - each in some way has her heart broken. One can't do anything for her child anymore - the other can still try to keep him safe.

Picture by William Blake


21 July 2021

Dienerin: Hinter dem Schilf

 Exodus 2,1-10


Ich habe nie hinterfragt.
Warum auch?
Es hat mich nie betroffen.
Es waren nur Die Da.
Die Anderen.
Ausländer.

Ich habe mich nie gekümmert.
Warum auch?
Es war weit weg.
Fast wie ein Gerücht.
Dachte nicht daran,
denn was war dran wichtig?
Es hat mich nie berührt.

Bis jetzt.
Plötzlich
trennt sich das Schilf
über ein schreiendes Kind,
eröffnet sich mir
eine Welt von Schmerz und Trauer.
Ich öffne den Korb
und sehe Leid
das ich nie an mich rangelassen hab.

Jetzt
ist es nicht mehr weit weg.
Jetzt ist es hier.
Tod und Verlust,
kinderlose Mütter,
dieses Kind, ausgesetzt
als letzte sterbende Hoffnung.

Vielleicht
kümmerte ich mich nie
weil es zu schwer ist.
Es ist zu viel.
Denn jetzt
wie kann ich zurück
und es einfach heschehen lassen?
Wie kann ich zurück
jetzt wo ich dieses Kind -
ein Kind wie meines -
gesehen habe,
verlassen zu seiner Rettung,
nur ein kleiner Teil des Leidens
das jeden Tag geschieht?

Ich habe nie hinterfragt.
Jetzt muss ich.
Ich habe mich nie gekümmert.
Aber jetzt habe ich gesehen,
und es ist mir nahegekommen,
und ich kann nicht mehr
zurück.

_____________

[20. Juli 2021]


Wie viel Ungerechtigkeit lassen wir an uns vorbeigehen, weil wir nicht direkt betroffen sind? Manchmal brauchen wir die direkte Begegnung mit dem Leid, die direkte Konfrontation mit dem Unrecht, das geschieht, um es wirklich zu bemerken und ernstzunehmen. Das kann unangenehm sein aber ist heilvoll.

Der Pharaoh wollte die Israeliten in Schach halten und liess alle Jungen töten. Wie sahen das die "gewöhnlichen Ägypter"? Vielleicht war es für sie auch einfach weit weg. Waren ja "nur die Sklaven". Vielleicht war die Entdeckung des Mose so eine Begegnung, die die Perspektive geändert hat...


Bild von James Tissot

20 July 2021

Servant Girl: Parting The Reeds

 Exodus 2:1-10



I never questioned.
Why should I?
It never affected me.
It was always Them.
The Others.
Foreigners.

I never cared.
Why should I?
It was far away.
Almost like a rumour.
Didn't think about it,
because why should it matter?
It never touched me.

Until now.
Suddenly,
parting the reeds
to a screaming baby,
I part the curtains
to a world of pain and sorrow.
I open the basket
to suffering
I never let myself care about.

It's not far away
anymore.
It is right here.
Death and loss,
childless mothers,
this child left to drift
a last hope against hope.

Maybe
I never cared
because this is too hard.
It is too much.
Because now
how can I go back
and let this keep happening?
How can I go back
now that I have seen
this child just like mine,
abandoned for his safety,
a fragment of the suffering
that happens every day?

I never questioned.
Now, I must.
I never cared.
But now I have seen
and it's come close to me
and I cannot go back
to before.

_____________________

[20. July 2021]

Another one who wasn't on my list... XD I tell you, there are way more women in the Bible than we often realise. Today I led a workshop on my method of interpreting the Bible through identifying with figures in the text and writing poetry from their perspective - and this was our text. And I realised I had missed a bunch of women in here, namely the servant girls! So while everyone was writing I wrote too.

I considered the situation in Egypt with the Hebrews being persecuted, their boys murdered, and how the servant girl as an almost "ordinary" Egyptian might have perceived it. Often when we belong to the privileged group it's easy to ignore or overlook the oppression of other groups. Not even on purpose necessarily: it's simply not "on our radar", it doesn't affect us, we never even have to think about it. Or maybe we know but don't realise how terrible it actually is, maybe we even have our excuses to support the injustice.

Actually getting to know someone who is directly affected changes everything. Suddenly it comes much closer, we are confronted with the issue, we have to form an opinion, we have to grapple with our prejudices and maybe revise what we used to think. It's easier not to care when we don't need to come face to face with those who suffer.

So maybe the servant girl had her first brush with what was actually going on with the Hebrews, when she fished that basket out of the water. 

Picture: James Tissot

03 July 2021

Rizpa: Ich bin Mutter

 1. Samuel 21,1-17

 

Ich bin Trauer –
zerrissen von Verlust,
ein Loch in meinem Herzen
wo du einmal warst.

Ich bin Verlust –
allein nun, verlassen,
meiner Söhne beraubt –
grausames Menschenopfer
im Namen Gottes getan.

Ich bin Liebe, ausgegossen
aus gebrochenem Herzen,
fliessende Tränen
die dich nicht auferwecken können,
schützende Arme
die dich umhüllen
dass dich am Tag die Sonne nicht steche
noch der Mond des Nachts.


Ich bin Zorn
der kämpft für meine Kinder
gegen alle Gewalten der Natur,
wenn es sein muss: gegen Gott;
gegen die Verwesung,
gegen den Tod.

Ich bin Treue
mächtiger als Hass,
schärfer als ein Schwert,
stärker als der Tod;
ich ertrage jeden Sturm,
ertrage jeden Schmerz –
deine Beschützerin
über das Ende hinaus.

Ich bin Mutter.
Meine Liebe stirbt nie.
Ich würde den Tod töten
wenn ich es nur könnte.

Wo ist nun Gott?
Freut er sich über Menschenopfer?
Oder bekämpft sie den Tod mit mir?

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[Übersetzung 7. Mai 2021]

Bild von George Becker

01 May 2021

Mephibosheth's Nurse: Forgive Myself


Jonathan son of Saul had a son who was lame in both feet. He was five years old when the news about Saul and Jonathan came from Jezreel. His nurse picked him up and fled, but as she hurried to leave, he fell and became disabled. His name was Mephibosheth.
(2. Samuel 4:4)

I will hate myself forever.
I will carry this guilt
for as long as I live.
Maybe you can forgive me,
but God, it's hard
to forgive myself.

They trusted me -
a trust that I shattered
with his poor little bones.
Responsibility
weighs me down like gravity
that pulled him to the ground.
How I wish
those seconds could have slowed
where he slipped from my hands.
Maybe they can forgive me
but God, it's hard
to forgive myself.

It was an accident,
they will say.
I did my best,
they will say.
Better that I ran,
ran for our lives,
ran for his life
and dropped him,
better he live on like this,
better crippled than dead.
Maybe they can forgive me
but God, it's hard
to forgive myself.

They say that I saved him -
I see that I ruined his life forever.
What if some nights
the thought crossed his mind
that he'd rather be dead?
Maybe he can forgive me
but God, it's hard
to forgive myself.

God, help me
to forgive myself.

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[1. May 2021]

Mephibosheth was a son of Jonathan, son of Saul the first king of Israel. After Saul was defeated by the Philistines, Mephibosheth's nurse fled with him - and dropped him. This had lifelong consequences for him.

What a thing for the poor nurse to be living with! I'm hard enough on myself when I make a mistake with my own child - with someone else's child (the king's son's child!) you have the added burden of others having entrusted their child to you. Ican't imagine the burden the nurse will have carried with her. Even though she saved him and the accident happened in the act of saving him, sometimes our failures impress us more strongly than our successes. Sometimes we are the ones who are hardest on ourselves.

So I made this about the inability to forgive oneself even when forgiveness is there, even when we are not actually at fault.

Picture: Wilhelm Amberg