1. Wenn Geburt doch so einfach wäre
Liebe Gemeinde,
Am vergangenen Wochenende war ich in Bischofszell zu den "Bischofszeller Weihnachtsspielen". In der ganzen Altstadt verteilt wurde von Station zu Station die Weihnachtsgeschichte vorgespielt, vom Besuch des Engels bei Maria über die Reise nach Bethlehem, die Abweisung beim Wirtshaus und die Geburt im Stall, bis zur Ankunft der Hirten beim neugeborenen Kind. Es war ein sehr besonderes Erlebnis und sehr schön gemacht.
Etwas, das mir besonders zum nachdenken gegeben hat, war die Geburt. Maria und Josef kamen beim Stall an, und der Erzähler sagte, dass die Zeit der Geburt gekommen war. Maria und Josef gingen hinein. Kurz darauf kamen sie wieder heraus, Maria mit dem Kind auf dem Arm.
"Das war wohl eine Sturzgeburt," hat jemand neben mir bemerkt, und ein paar haben gekichert.
Ja, wenn das doch nur so einfach wäre! Schwuppsdiwupps, da ist das Kind. Keine Mühe, keine Schmerzen, es ist einfach da. Erholung braucht die Mama danach auch keine, sie sieht frisch aus und zufrieden. Das Kind ist herzig und lieb und liegt still und brav da, hält schön hin für den ganzen Besuch.
Ja, so stellen wir das doch dar, alle Jahre wieder, in Bildern, in Krippenszenen, auch in unseren Liedern. "Stille Nacht, heilige Nacht" – alles schön ruhig und friedlich, Maria und Josef, die glücklichen Eltern, beide frisch und gut ausgeruht, "in reinlichen Windeln das himmlische Kind, viel schöner und holder als Engelein sind." Sogar Futterkrippe und Stall sind sauber und ordentlich. Alles ist schön, alles ist sauber, alles ist friedlich.
Aber sind wir mal ehrlich: so sieht es bei einer Geburt nicht aus.
2. Wie es (wahrscheinlich) eigentlich war...
Stille Nacht? Für Josef und Maria ist es nicht besonders still. Und das Lied trägt dem auch Rechnung, denn es heisst: "Einsam wacht / nur das traute hochheilige Paar." Einsam wacht. Für sie ist das eine strenge Nacht.
Zuerst der ganze Stress, einen Platz zu finden, wo Maria gebären kann, in diesem Ort so weit weg von daheim. Reisen in der Spätschwangerschaft ist sicher nicht so angenehm, mit dem immer unpraktischer werdenen Körper. Beschwerden – vielleicht hat sie Sodbrennen, vielleicht bekommt sie Wassereinlagerungen, sie wird schneller müde, vielleicht kann sie in der Nacht schlecht schlafen, weil der Bauch ihr im Weg ist oder das Kind zu fest tritt. Vielleicht ist Maria ungeduldig, endlich ihr Kind kennenzulernen – und freut sich, wenn es jetzt endlich, endlich losgeht. Aber vielleicht hat sie auch Angst, was da auf sie zukommt. Geburt ist ja nicht ungefährlich, weder für die Mutter noch für das Kind, damals noch mehr als heute.
Steht ihr ausser Josef noch jemand zur Seite, um sie zu unterstützen? Wie geht sie um mit den Schmerzen, in dieser Zeit, in der Schmerzmittel noch gar keine Option sind? Nicht alle Frauen tönen während der Geburt – ist Maria eine, die stumm bleibt, oder muss sie lauthals schreien? Geht die Geburt lang, oder ist das Kind schnell da? Bekommt sie Risse oder andere Geburtsverletzungen?
Und dann ist es endlich da, das Kind – der "holde Knabe im lockigen Haar". vielleicht sieht er etwas zerquetscht aus; viele Neugeborene sind am Anfang etwas gräulich-blau, runzlig, nass. Weiss nicht, ob irgend jemand ausser Maria in dem Moment ihn "schöner und holder als Engelein" gefunden hat. Und die reinlichen Windeln sind sicher nicht so lange reinlich geblieben, hoffentlich nicht – ich weiss noch, wie wir auf das erste Bisi bangen mussten weil es sich etwas verspätet hat und das nicht gesund gewesen wäre.
Einsam wacht: die strenge Nacht geht weiter. Vielleicht kann Josef erschöpft einschlafen. Ob Maria schlafen kann? Sie braucht die Erholung, aber vielleicht sind die Glückshormone zu stark und halten sie wach, vielleicht muss sie aufbleiben und dieses wunderbare Wesen anschauen, berühren, bewundern. Vielleicht hält das Kind sie wach mit Stillen. Vielleicht kann sie nicht einschlafen, weil jetzt die Sorgen anfangen: Geht es meinem Kind gut? Ist alles in Ordnung? Atmet es noch? Vielleicht muss sie immer wieder einen Finger über die Nase des Kindes halten um sicherzustellen, dass er noch atmet.
Einsam wacht: nicht mehr ganz einsam, sobald die Hirten eintrudeln. Dann haben sie Gesellschaft. Wollen sie die überhaupt? Sind sie überhaupt bereit dafür? Maria hat eine riesengrosse innere Wunde und kann vielleicht kaum aufstehen und laufen. Sie hat gerade eine ganze Nacht schwerste körperliche Arbeit geleistet. Duschen im Stall kann man vergessen. Sie ist verschwitzt und verklebt und es tut noch alles weh. Und da stehen plötzlich lauter Fremde – und auch nicht gerade die willkommensten Fremden. Hirten gehörten damals zum Rand der Gesellschaft, wahrscheinlich waren diese Menschen zerlumpt und dreckig und gaben keinen besonders vertrauenswürdigen Eindruck. "Redliche Hirten", was für ein Widerspruch, hätte man damals gesagt. Das sind nur unredliche Leute.
Und so haben wir unsere Krippenszene: blutig, schwitzig, dreckig, es müffelt nach Tier und nach Körperflüssigkeiten, da ist Erschöpfung und Schmerz, auch ein bisschen Sorge und Angst.
Aber da ist auch Freude. So viel grosse, unaussprechlich grosse Freude. Eine Freude wie nach jeder Geburt, wenn das Kind da ist und es Mutter und Kind gutgeht. Und noch etwas mehr: die Freude an diesem ganz besonderen Kind. Emmanuel – Gott mit uns. Gott ist Mensch geworden. Mitten in all dem Blut und Schweiss und Dreck ist Gott. Nicht im Sterilen, Reinen, Perfekten sondern in diesem total irdischen, total körperlichen, total menschlichen, ja fast tierischem Geschehen.
3. Das geht doch nicht
Liebe Gemeinde,
Wird es uns unangenehm, wenn wir uns die Geburt Jesu so vorstellen? Stört es uns, wenn sie anders dargestellt wird als wie gewohnt schön, sauber, rein und friedlich? Vor einigen Jahren machte ein Bild auf den sozialen Medien die Runden, wo Maria schreiend das Jesuskind herauspresst. Es gab viele negativen Reaktionen. Das geht doch nicht! Das ist doch unwürdig, das ist respektlos!
In einem Artikel über Tabus rund um die Geburt habe ich gelesen: "Wenn die Frau schreit vor Schmerzen, den Stuhlgang nicht kontrollieren kann, Blut fliesst, dann empfinden manche Männer das als erschreckend, eklig und entwürdigend für ihre Frau." Da ist es klar, dass es für unsere fromme Sensibilitäten schwierig sein kann, die "reine Jungfrau Maria" so zu sehen. So eine Darstellung kann einem fast blasphemisch vorkommen.
Oder neuerdings habe ich eine Zeichnung gesehen von einem Baby, dem gerade der Po gewischt wird – der Titel: "Allmächtiger Gott". Da kommt einem doch eine instinktive tiefe Ablehnung hoch. Das geht doch nicht. Das kann man doch so nicht denken.
Das Heilige hat doch mit dem Irdischen, mit dem Menschlichen, mit dem Körperlichen nichts zu tun. Und auch wenn wir glauben, dass Gott Mensch geworden ist, fällt es uns extrem schwer, das in seiner ganzen Konsequenz durchzudenken und zu akzeptieren. Gott ist ein Kind in Windeln geworden, und wir wissen was Kinder in Windeln machen, und da ist nichts besonders reinliches dran. Das passt uns aber so gar nicht in den Kopf. Es fühlt sich so falsch an.
Und das, liebe Gemeinde, ist für mich das Wunder von Weihnachten.
4. Das Wunder von Weihnachten: Gott wird ganz Mensch
Das Wunder von Weihnachten ist, dass Gott ein schreiendes, kötzelndes Kind wird. Das Wunder von Weihnachten ist, dass Gott, statt einfach vom Himmel herabzusteigen, wie er es sehr wohl gekonnt hätte, den Weg der Geburt ausgesucht hat, mit allem was dazu gehört. Das Wunder von Weihnachten ist, dass das Heilige nicht abgehoben, unnahbar und überperfekt ist, sondern dass es sich ganz in das Allermenschlichste eintaucht.
Es ist so in uns eingeprägt worden: Geist gut, Körper schlecht. Das Heilige, wohlwollend aber auf Abstand. Gott sagt an Weihnachten, dass das nicht so ist. Er wird Mensch und heiligt damit unsere menschlichsten Erfahrungen. Gerade das Körperliche, auch das Unattraktive, sogar das Dreckige wird Raum für das Heilige, Begegnugnsraum mit Gott.
Das will uns Mut machen. Mut machen, dass Gott uns nahe kommen will. Dass Gott in all unseren Erfahrungen da ist, unser ganzes Menschsein mit all seinen Facetten mit uns teilt. Die Krippe ist kein unmöglicher, ferner, idyllischer und perfekter Ort, sondern der Ort, wo Gott unsere Unvollkommenheit heiligt. Gerade unsere Unvollkommenheit hat er erwählt. An Weihnachten träumen wir nicht von unmöglicher Idylle, sondern Gott erinnert uns: der Friede auf Erden kommt in dem ganz normalen, Gott kommt zu uns, wie wir gerade sind. Er hat keine Berührungsängste. Auch wir dürfen uns in dieser Geschichte finden, an der Krippe, so wie wir sind. Und an dieser Krippe können wir Kraft schöpfen, Hoffnung schöpfen, nicht weil da eine heile Welt ist, sondern weil Gott sein Heil in unsere Welt hineinbringt, mitten hineinbringt. In unsere Krankheit, in unsere Trauer und unseren Verlust, in unsere Sorgen und Ängste, in die Banalitäten des Alltages, in unsere kleinen und grossen Freuden, in unsere ganz menschlichen Erfahrungen – da wird Gottes Heil geboren, da können wir es jeden Tag erleben, weil Gott an einem Tag vor langer Zeit geboren wurde, so wie jedes Kind geboren wird.
Amen